Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und westliche Medizin
(Vortrag Qingshan Liu)

1) Wo liegt der wesentliche Unterschied zwischen der TCM
und der westlichen Medizin?

Die westliche Schulmedizin baut auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Sie zieht die Forschungsergebnisse der Biologie heran, um festzustellen, wie Lebewesen entstehen, welche Formen sie annehmen und wie sie ihre Lebensfunktionen steuern. In der Anatomie zerteilt sie den menschlichen Körper so, dass seine Strukturen getrennt sichtbar werden und versucht, diese systematisch zu erfassen. Die Physiologie hilft festzustellen, wie diese anatomischen Strukturen funktionieren und welche Bedeutung sie für das Leben haben. Prozesse im Organismus werden unter Anwendung der Chemie analysiert und in der Pathologie werden Krankheitsprozesse anhand von Gewebe- und Organveränderungen analysiert.

Durch Zuhilfenahme all dieser einzelnen Wissenschaften differenziert die Schulmedizin zwischen normalen und krankhaften biologischen Funktionen. Sie sieht als Ursache der Krankheit einen gestörten Funktionsablauf einzelner Organsysteme. Mit Hilfe verschiedener Disziplinen wie Innere Medizin oder Chirurgie behandelt sie die Erkrankungen durch Beeinflussung dieser gestörten Funktionsabläufe und bedient sich dabei auch der Pharmakologie, der Lehre von den Arzneimitteln.

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) baut nicht auf dieser Art von Anatomie oder Physiologie auf, sondern beruht auf der Beobachtung von Körperreaktionen und der Interpretation von Körpererfahrungen. Zwar kennt sie auch die Hauptstrukturen der Anatomie wie Magen, Leber usw., aber betrachtet sie nicht auf histologischer und zytologischer Ebene. Chirurgie und Innere Medizin sind der Chinesischen Medizin bekannt; sie gebraucht sie jedoch in einem ganz anderen Sinne. Sie interessiert sich überhaupt nicht für Chemie, sondern für etwas, das in der Schulmedizin kein Thema ist: das Qi (die Lebensenergie, Lebenskraft). Die Chinesische Medizin konzentriert sich auf das Qi und die Erhaltung der Qi-Harmonie.

2) Wo liegt der Ursprung der TCM?

a) Meditation/Innere Visualisierung

Der Ursprung der Chinesischen Medizin ist demnach "Qi Gong", allerdings nicht die Qi Gong-Übungen, sondern die Qi Erfahrungen und die Beschäftigung mit dem Qi-Phänomen. Zuerst hat man das Qi wahrgenommen und durch die Meditation oder innere Visualisierung die Qi-Ansammlungsstellen, die Qi-Zentren (Dantian), entdeckt. Weiterhin entdeckte man auch die Verbindungen zwischen diesen Qi-Zentren, zwischen den Organen und den ihnen entsprechenden Bereichen an der Oberfläche des Körpers. Diese Verbindungen nennt man seither Qi-Leitbahnen oder übersetzt: Meridiane. Die Qi-Stellen (Akupunkturpunkte) wurden ebenfalls nach und nach entdeckt.

b) Konkretes Erlebnis 

Nehmen wir ein Beispiel: Bei der Arbeit beobachteten die Naturmenschen in alter Zeit, dass durch die Reibung des Arbeitswerkzeuges in der Mitte der Handfläche das Qi angesprochen wurde. Man spürte, dass das Qi dort angesammelt bzw. aktiviert wurde und gab daher dieser Stelle den Namen „Lao Gong“, „Palast der Arbeit“. Wie man sieht, handelt es sich also nicht um ein ausgedachtes theoretisches Konstrukt. Stattdessen stützt sich die Meridianlehre auf Erkenntnisse Jahrtausende langer Qi-Erfahrungen und ist auf dieser Basis entstanden. Archäologische Fundstücke lassen erkennen, dass bereits vor 10.000 Jahren in systematischer Form Qi-Techniken „geübt“ wurden. 

c) Intuitives Verhalten

Schon von Alters her wurden die Hände zum Behandeln genutzt: Bei Bauchschmerzen werden sie auf den Bauch gelegt, bei Kopfschmerzen, z. B. werden die Schläfen gerieben. Intuitiv, ganz natürlich entwickelten sich diese Methoden, und heute nennen wir sie Akupressur. Zur Verstärkung der Handtechniken fanden bereits „Geräte“ in Form von unterschiedlich bearbeiteten Spitz-Steinen Verwendung. Im Vergleich zu dieser langen Entwicklungsgeschichte der Hand- und Körpermethoden sind die heutigen Nadeltechniken, die Akupunktur, eine recht neue Methode.  

d) Äußerer Einfluss 

Die antiken Behandlungsmethoden erlebten zur Zeit der streitenden Reiche um ca. 500 v Chr. eine intensive Entwicklung. Die Völker der sieben Königreiche bekämpften sich über Hunderte von Jahren mit dem Ergebnis unzähliger verletzter Menschen. Um diesen Menschen zu helfen und zu heilen entstanden neue effiziente und wirkungsvolle Methoden.  

3) Wichtige Erklärungsschemata der TCM 

Die Strategie dieser Methoden ist bis heute gleich geblieben: Im Zentrum der Betrachtung steht immer nur das „Qi“. 

a) Yin Yang: 

Die chinesische Medizin betrachtet den Qi-Zustand eines Lebewesens und fragt zunächst: Ist eine Qi-Fülle oder eine Qi-Leere feststellbar? Denn Ziel ist es, eine Balance zwischen Yin und Yang, zwischen Leere und Fülle wieder herzustellen. 

b) 5 Elemente 

Im Laufe der Zeit wurde dieses Konzept noch weiter verfeinert indem die Lehre von den 5 Wandlungsphasen entwickelt wurde, insbesondere auch zur Betrachtung der inneren Organe und ihrer Funktionszusammenhänge. Jeder Mensch sollte diese Betrachtungsweise verstehen können, weshalb sich die Sprache an Naturphänomenen orientierte, an dem, was den Menschen jener Zeit nahe war. Da gibt es die Erde, das Holz, Feuer, Metall und Wasser, alltägliche Begriffe also für die komplexen und verborgenen Verbindungen zwischen den Organen innerhalb eines Organismus. Ebenso wie die Meridianlehre nicht ein ausgedachtes, theoretisches Konzept ist, ist auch die Lehre von den „fünf Wandlungsphasen“ oder den „Fünf Elementen, chinesisch „Wu Xing“, nicht eine Theorie sondern ein auf Erfahrungen beruhendes Erklärungsschema. 

c) Diese "Lehren" beruhen auf Erfahrung 

Im Sinne unseres heutigen Begriffsverständnisses gibt es in der chinesischen Medizin keine Theorie. Die gesamte chinesische Medizin basiert auf Praxis, auf Erfahrungen und Beobachtung. Da sich diese Praxis aber als sehr wirkungsvoll erwiesen hat, konnte sie die Jahrtausende überstehen.  

4) Wesentlicher Unterschied: Ganzheitlichkeit 

Noch wesentlicher besteht der Unterschied zur westlichen Schulmedizin darin, dass der medizinische Ansatz der TCM ganzheitlich ist. Unter dieser Ganzheitlichkeit ist nicht etwa zu verstehen, dass man vom Kopf bis Fuß alles gleichzeitig behandelt oder Psyche und Soma gleichzeitig berücksichtigt, sondern man hat dies alles gar nicht erst getrennt. In der TCM hat man ein ganzheitliches Konzept, nämlich nur das Qi zu behandeln und nicht etwas anderes. Denn das Qi wird psycho-somatisch beeinflusst und sein Zustand wirkt wiederum auf die psycho-somatische Ebene zurück. 

Im Sinne von „Qi“ gehören Kopf und Fuß, die Organe und Extremitäten, also oben und unten, innen und außen erstaunlicherweise zum gleichen energetischen System. 

Daher ist das Grundkonzept der Vorgehenswiese schon an der Wurzel ganzheitlich. Alles Andere, z. B. konkrete Krankheitsbilder, ergibt sich als Folge des Ungleichgewichts des Qi. Es ist also nicht die symptomatische Krankheit, die man zu heilen versucht, sondern die Unausgeglichenheit des Qi.  

5) Missverständnisse durch die Übersetzungen 

Bedauerlicherweise tragen auch fehlerhafte und oberflächliche Übersetzungen zu Missverständnissen bei. Dies lässt sich verdeutlichen an folgendem Beispiel: Das chinesische Wort "Shen"(肾) wird im Deutschen zwar als "Niere" übersetzt, bedeutet aber im Chinesischen weit mehr als nur das anatomische Organ. Es beinhaltet Nieren, Harnblase und die dazu gehörigen Meridiane sowie die von diesen Meridianen durchzogenen Körperbereiche und ist auch verantwortlich für deren Funktionen, zum Beispiel für Hörvermögen, Sexualität, Fruchtbarkeit, Zustand der Gelenke, des Knochens, also des gesamten Bewegungsapparates. "Shen"( 肾) sollte daher als "Nierensystem" ins Deutsche übersetzt werden und darf nicht mit "Niere" verwechselt werden.  

Die richtige Übersetzung im Chinesischen für "Niere" heißt eigentlich "Shen Zang"(肾脏), womit das Organ des Nierensystems gemeint ist. Umgangssprachlich heißt Niere im Chinesischen "Yao Zi"(腰子). Das erste Zeichen "Yao"(腰) bedeutet soviel wie "Lenden", das zweite Zeichen „Zi“(子) kann mit "Kern" übersetzt werden. Zusammen gelesen ergibt sich dann die Bedeutung: "Kern des Lendenbereiches".  

Das Wort "Yao" (腰) besteht wiederum aus zwei Teilen: links "Fleisch" (肉), rechts "wichtig" (要). So zeigt das chinesische Wort im Bild, dass der Lendenbereich der wichtigste Teil des Körpers ist. 

6) Wie kann eine Gehübung das Nierensystem stärken? 

Mittlerweile ist diese so genannte Gehübung zum Stärken des Nierensystems in unterschiedlichen Versionen bekannt geworden. Warum aber stärkt diese besondere Art des Gehens das Nierensystem? Das gemeinsame Merkmal der verschiedenen Versionen besteht z. B. darin, dass durch Fersenansatz bzw. gehakten Fußansatz der Nieren- und Harnblasenmeridian angesprochen wird, durch das Hohlkreuzlösen „Shen Shu“ (肾俞) und „Ming Men“(命门) aktiviert und durch die Handführung und Wirbelsäulenbewegung das Qi zum Dantian, also in den Zentralbereich des Nierensystems, geführt wird.  

Legen wir also beim Üben des Qigong die Hände auf den Nabelbereich, so geht es dabei niemals nur um eine Bewegung. Vielmehr geht es darum, das Qi zu sammeln. Dabei aktivieren wir unsere inneren Augen und unsere Achtsamkeit, um zu spüren und wahrzunehmen, ob und wie das Qi geführt wird. (Es fühlt sich an wie Kribbeln, Wärme, Fülle usw.) Erst dadurch können wir die Handbewegungen richtig steuern, so dass sich das Qi tatsächlich im Dantian sammelt.  

7) Heilprinzip der TCM 

Das Heilprinzip der TCM besagt, dass wir unseren Krankheiten nicht „nachjagen“, sondern stattdessen die Regenerationskraft des Körpers stärken und die Bedingungen für eine Selbstheilung optimal gestalten sollen. Solange ein Organismus lebt, ist er unter entsprechenden Bedingungen immer wieder fähig, sich zu erholen und zurück in einen ausgeglichenen Zustand zu gelangen.  

Sind die Bedingungen allerdings nicht entsprechend, so wäre es ein Wunder, wenn sich keine Krankheiten einstellen würden.  

An folgendem Beispiel lassen sich die Unterschiede zwischen westlicher Schulmedizin und TCM noch einmal anschaulich verdeutlichen: 

a) Beispiel: Ameisen im Kochtopf  

Vergleichen wir den menschlichen Körper mit einem gefüllten Kochtopf, der auf dem Herd steht. Die Schulmedizin erforscht detailliert, wie dick die Topfwand ist und woraus sich die im Topf befindliche Nahrung zusammensetzt. Eine genaue Bestandsaufnahme der verschiedenen Vitamine und Proteine, der Kalorienzahl und der Flüssigkeit gehören dazu. Wenn der Koch einen Schuss Essig hinzu gibt, weiß die Schulmedizin sofort, wie sich der pH-Wert ändert, usw.  

Die Traditionelle Chinesische Medizin weiß, dass das Essen auf dem Herd gart und gut schmecken soll. Sie konzentriert sich damit auf Betrachtungen zu Aussehen und Beschaffenheit des Essens. Sie überwacht, welche Farbe es hat und ob es klebrig oder trocken, weich oder hart ist. Für diese Beobachtungen gibt es sehr viele Anhaltspunkte, die in der Schulmedizin unbekannt sind oder keine Beachtung finden.  

Plötzlich sind nun Ameisen in den Topf eingedrungen. Das entspricht beim menschlichen Körper beispielsweise einer Infektion.  

Die Schulmedizin fragt sich, womit sie das Ungeziefer beseitigen kann. Um die Antwort zu finden, muss sie zuerst wissen, um was für einen Typ von Ameisen es sich handelt, ob es Typ A, Typ B oder sogar Typ C ist. Für bestimmte Erreger werden bestimmte Gegenmittel eingesetzt. Einige Ameisen müssen aus dem Topf herausgenommen werden, um unter dem Mikroskop untersucht zu werden. Das entspricht z. B. einer Blutentnahme oder Biopsie, also einer Laboruntersuchung. Aus der Mikrobiologie weiß die Schulmedizin, wie alle bekannten Erreger aussehen. Sie wird beispielsweise anhand der äußeren Form, wie etwa der Hinterbeine oder Kopfform der Ameisen, feststellen, dass es sich um eine Ameise vom Typ A, entsprechend z. B. um eine Bakterie vom Typ A handelt. Entsprechend würde sie mit Hilfe von Biochemie und Pharmakologie herausfinden, welches Mittel es gegen diesen Ameisentyp A gibt - das entspräche etwa einem Antibiotikum. Damit werden die Ameisen im Topf bekämpft. Wie wir Pharmazeutika kennen - es gibt fast kein Medikament ohne unerwünschte Nebenwirkungen - werden am Ende die Ameisen zwar vernichtet sein, das Essen wäre aber nun nicht mehr genießbar. Man spricht trotzdem von einer „Heilung“. Erschwerend kann hinzu kommen, dass nicht nur Ameisen eines Typs zu bekämpfen sind. Ist das Mittel gegen Typ A zufällig günstig für Typ B, der ebenfalls vorhanden ist, könnte Typ B sich nun übermäßig vermehren, und die „Krankheit“ würde sich verschlimmern. Wenn die Art der vorgefundenen Ameisen nicht bekannt ist, weiß man nicht, womit man sie bekämpfen kann.  

Während der Schulmedizin die Klassifikation von Krankheitserregern für die Strategie ihrer Vernichtung wichtig ist, konzentriert sich die Chinesische Medizin auf das Qi und die Qi-Harmonie. Gesundheit wird durch die Harmonie des Qi in der Einheit, die Körper, Seele und Geist bilden, gewährleistet. Also versucht die Chinesische Medizin gar nicht, die Ameisen unter die Lupe zu nehmen und zu kategorisieren, sondern sie überprüft die Harmonie des Ganzen.  

Bezogen auf unser Beispiel würde sie sich zunächst fragen, warum die Ameisen plötzlich im Essen vorhanden sind. Sie würde feststellen, dass die Qi-Harmonie gestört ist, weil der Herd nicht genug Hitze abgegeben hat. Daher können sich jetzt die Ameisen im Topf halten. Die Ursache dieser Krankheit ist demnach nicht die Ameiseninvasion, sondern die Disharmonie aller Faktoren. Die Temperatur ist gesunken. Aus Erfahrung weiß man, dass zur Erhöhung der Temperatur das Feuer angefacht werden muss. Feuer wird durch Holz geschürt und durch Wasser gelöscht. Das entspräche der Theorie der fünf Wandlungsphasen der Chinesischen Philosophie und Medizin. Die Chinesische Medizin wird jetzt feststellen, dass entweder zu wenig Holz vorhanden ist oder zu feuchtes benutzt wurde. Also wird sie trockenes Holz nachlegen, das Feuer wird daraufhin mehr Wärme geben und die Ameisen vertreiben. Die Chinesische Medizin hat den Topf unberührt gelassen; das Essen bleibt genießbar.  

Im übertragenen Sinn hätte sie den Körper wieder funktionsfähig gemacht. Obwohl sie sich nach wie vor nicht dafür interessiert hätte, welcher Typ von Bakterien auftrat, hätte sie die Krankheit geheilt, und zwar ohne Nebenwirkungen. Auf diese Art und Weise hat die Traditionelle Chinesische Medizin Tausende von Methoden zum »Feuermachen« entwickelt. Sie weiß außerdem, dass, so lange Harmonie herrscht - in diesem Fall die Hitze - die Ameisen nicht wiederkommen Gleichzeitig könnten auch keine andere Ungeziefer kommen!  

Die Traditionelle Chinesische Medizin will die Entstehungsursachen von Krankheiten beseitigen. Die Heilung mit Hilfe spezifischer Medikamente hat hingegen nur die Symptome (Ameisen) beseitigt, nicht aber die wahre Ursache, so dass die Krankheit möglicherweise immer wieder auftreten kann, sobald die Wirkung des Medikaments nachgelassen hat.  

Schulmedizin und Traditionelle Chinesische Medizin stehen keineswegs im Gegensatz zueinander. Sie können sich im Gegenteil sehr gut ergänzen. Wenn beispielsweise das »Feuermachen« in bestimmten Fällen nicht schnell genug wirkt und die Ameisen alles zu vernichten drohen, müssten sie wohl auch gleichzeitig »operativ« entfernt werden; wenn der Topf eines Tages durch ein Missgeschick beschädigt ist, muss er fachgerecht repariert werden. In solchen Fällen sind schulmedizinische Kenntnisse und Disziplinen wie die Unfallchirurgie unentbehrlich.  

b) Beispiel: Knochen wie Pflanzen  

Am Beispiel von Gelenkschmerzen, können wir erfahren, dass das Zuführen von Qi (z. B. mittels der Vorstellung, Qi zu den Knien zu schicken) die Mikrozirkulation in den Knochen unmittelbar verbessert. Knochen sind keine leblose Substanz, sondern einem Pflänzchen vergleichbar. Verliert eine Pflanze die Blätter und sieht braun aus, so spricht man von einer Krankheit, vergleichbar z. B. der Osteoporose. Um diesem krankhaften Zustand entgegen zu wirken, könnte man entweder die Blätter grün anstreichen oder die fehlenden Blätter durch künstliche ersetzen oder aber man beginnt einfach die Pflanze wieder zu gießen bzw. in der Umgebung günstige Lebensvorrausetzungen zu schaffen. So erst kann das Pflänzchen aus eigener Kraft seine Blätter neu bilden und wieder prachtvoll werden. Dieses Beispiel erklärt, warum wir durch das üben von Qigong unsere Knochen stärken und die Gelenke wieder schmerzfrei und belastbar machen können.  

c) Beispiel: Krebserkrankung wie Schimmel an der Hauswand  

Um im Bild zu sprechen vergleichen wir die Krebszellen mit Schimmel an der Hauswand. In der westlichen Medizin würde der Schimmel abgekratzt und sorgfältig untersucht. Man möchte feststellen, um welche Schimmelart es sich handelt, um gezielt dagegen vorgehen zu können: ob man ihn zum Beispiel mit einem Brenner wegbrennen kann, vgl. Bestrahlung, mit Chemikalien behandeln kann, vgl. Chemotherapie oder ganz wegkratzen möchte, vgl. Operation. Wenn dann aber eines Tages der Schimmel überall vorhanden ist, kann keine Behandlungsmethode mehr helfen, denn sie würde das ganze Haus zerstören. In diesem Fall bleibt uns nichts anderes übrig als von einer unheilbaren Krankheit zu sprechen.  

Die Chinesische Medizin dagegen untersucht „die Schimmelpilze“ nicht, kümmert sich jedoch um die Umgebung, denn Feuchtigkeit könnte die Ursache für die Schimmelbildung sein. Anstatt den Schimmel selbst zu untersuchen, sucht sie nach der Quelle der Feuchtigkeit, um diese zu beseitigen. Möglicherweise findet sich eine defekte Belüftungsanlage, ein geplatztes Rohr in der Wand oder sogar eine Pfütze im Raum.  

Ist die Feuchtigkeit beseitigt, so wird der Schimmel bald von selbst verschwinden. Also ist die Feuchtigkeit, vgl. Qi-Disharmonie, die eigentliche Krankheit, die beseitigt werden muss.  

Um das Qi zu untersuchen, wurden z. B. die Zungendiagnose (Untersuchung der Zungenform, -farbe und –belag usw.) sowie die Augen- und Ohrendiagnose oder Pulsdiagnose entwickelt. Unterschiedliche Pulseigenschaften werden unterschieden und kategorisiert. Die äußeren körperlichen Erscheinungen ermöglichen uns, den tatsächlichen Zustand des „unsichtbaren Qi“ zu erkennen.  

Die TCM ist der Überzeugung, dass der Mensch gesund und sein Abwehrsystem stark ist, wenn das Qi frei im ganzen Körper fließt und harmonisch verteilt ist. Eine klassische Aussage des „Huang Di Nei Jing“ (Klassiker des gelben Kaisers”, ältestes Werk der chinesischen Medizin und bis heute ihre Grundlage) besagt, dass der Mensch gesund ist, solange das Qi in Ordnung ist: „Wenn das innere Qi in Harmonie ist, woher könnten die Krankheiten kommen?“  

8) Westliche Medizin und TCM  

Abschließend lässt sich sagen, dass für die westliche Medizin das „Qi“ kein Thema ist.  

Wie nun ließen sich beide Konzepte verbinden? Die westliche Medizin auf der Basis der Naturwissenschaften kennt die Mechanismen des Körpers im Detail. Die chinesische Medizin dagegen richtet sich nach natürlichen Prozessen: Ist man müde, so sollte man schlafen, ist man hungrig, so sollte man essen. Dies muss nicht naturwissenschaftlich bewiesen werden um zu funktionieren.  

Leider gibt es im modernen China heute auch intensive Bestrebungen, diese traditionellen Methoden wegen ihrer „Unwissenschaftlichkeit“ abzuschaffen. Zwei unterschiedliche Begriffe werden hierbei allerdings vermischt, einerseits „wissenschaftlich“, andererseits „naturwissenschaftlich“. Die chinesische Medizin kann in ihrer Art erst recht als „hoch“-wissenschaftlich bezeichnet werden, denn die Heilwirkungen sind seit Jahrtausenden klar erkenn- und wiederholbar. Leider genügt der heutige Stand der Naturwissenschaft nicht, um die Funktionsmechanismen der TCM zu erklären. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Traditionelle Chinesische Medizin nicht funktioniert!  

Man sollte im Bewusstsein behalten, dass die heutige Naturwissenschaft noch nicht bis zu Ende entwickelt ist. Vieles, was gestern gegolten hat, gilt heute schon nicht mehr, was heute gilt, kann morgen genauso gut als falsch erklärt werden. Wie viele Medikamente dürfen jetzt schon nicht mehr eingesetzt werden, die früher als hervorragende Mittel gegolten haben…  

Ca. alle 10 Jahre verdoppelt die moderne Schulmedizin ihre Inhalte. Es wird versucht, immer noch weiter in die Tiefen und Details zu schauen und dabei läuft man Gefahr, „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen,“ d.h. die übersicht über den Gesamtzusammenhang zu verlieren.  

Manchmal wird der TCM der Vorwurf gemacht, sie habe sich über die Jahrtausende hinweg nicht verändert. Aber die alten Erfahrungen und Wahrheiten, die über mehrere tausend Jahre geprüft wurden, bedürfen keiner Veränderung, da es sich um natürliche Prinzipien handelt, die immerfort gültig sind. Im Gegensatz dazu verändern sich die Naturwissenschaften ständig, und dies ist ein „Muss“, da sie zum Teil noch nicht am Ziel, der Wahrheit angelangt sind.  

Nach Angabe eines Physikers der Aerodynamik dürften die Bienen eigentlich gar nicht fliegen können! Dieses Beispiel zeigt uns, wie unsinnig eine naturwissenschaftliche Theorie manchmal sein kann. Deswegen sollten wir uns nicht 100% auf das verlassen, was heute naturwissenschaftliche Erkenntnis ist.  

Dennoch sind durchaus gleichzeitige Anwendungsmöglichkeiten der im Ansatz so verschiedenen medizinischen Lehren sinnvoll. Schließlich betrachten sie doch den gleichen Menschen nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln und behandeln ihn auf unterschiedliche Weise.  

Aus dem Wissen und den Stärken beider Systeme zu schöpfen wäre bereits ein bedeutender Schritt nach vorn. So ist die Chinesische Medizin im Präventionsbereich sehr stark, während die westliche Medizin z. B. die Chirurgie sehr weit entwickelt hat. Natürlich ist es eine wichtige Entwicklung und ein großes Anliegen, die Funktionsmechanismen, das „Wie“ der Chinesischen Medizin immer weiter zu erforschen und zu verstehen. Allerdings befinden wir uns hierbei erst ganz am Anfang, auch wenn die Wirkungen der TCM, das „Was“ über die Jahrtausende dokumentiert sind.

 

 

Großmeister Qingshan Liu
Präsident der MQA
-Münchener Qi Gong Akademie.
Tel: +49-89-23516902

www.mqa.de 

Der Autor dankt seiner Schülerin und Assistentin Frau Angelika Schunck für ihre vielfältigen Anregungen und konstruktive Mitarbeit.